Stahlbetonanalyse   21

von Prof. Dr. Richard Rojek

Einführung

Der große Erfolg der Eisen- und später der Stahlbetonbauweise ist u. a. begründet in der genialen Idee von Emil Mörsch aus dem Jahr 1907, in biegebeanspruchte Tragwerke mit Hilfe von Bewehrungen für die Zugstreben Fachwerke einzubauen, um auf diese Weise auch bei höheren Beanspruchungen das Zusammenwirken der Zug- und Druckgurte durch die verbindenden Zwischenbereiche zuverlässig zu sichern.

Mit der Zeit zeigte sich, dass die Bemessung nach der Mörsch'schen Fachwerkanalogie oft deutlich auf der sicheren Seite liegt und sie wurde entsprechend modifiziert. Dabei stand meist nicht im Vordergrund, das tatsächliche Tragverhalten zu erforschen, sondern die Tragfähigkeit auf empirischen Weg einzugrenzen. Damit wurde erreicht, dass heute die Bemessung biegebeanspruchter Stahlbetonbauteile in wirtschaftlicher Weise zu hinreichend sicheren Tragkonstruktionen führt; die tatsächlich wirkenden physikalischen Zusammenhänge blieben bislang jedoch weiterhin unbekannt.

Relativ wenig Beachtung findet ein anderer Aspekt des Mörsch'schen Ansatzes, der bei genauerer Betrachtung physikalisch nicht haltbar ist: Es wird unterstellt, dass die Tragwerke Spannungen aufweisen, die nach der Biegetheorie ermittelt werden können. Dies würde u. a. voraussetzen, dass die Stahlbetontragwerke linear-elastisch, homogen und isotrop reagieren, was bereits nach der ersten Rissbildung nicht mehr der Fall ist. Es kommt hinzu, dass Schubspannungen, die auch im Rahmen der Biegetheorie keine Beanspruchung, sondern lediglich eine Rechenhilfsgröße darstellen, als Maßstab für die Tragfähigkeit verwendet werden. Entsprechend ist von "Schubverhalten", "Schubbemessung", "Schubbewehrung", "Schubrissen" u. ä. die Rede. Neuerdings wird der Begriff "Schub" oft durch "Querkraft" ersetzt, was aber nur bedeutet, dass Schubspannungen als Maßstab beibehalten und lediglich mit einer Querschnittsfläche multipliziert werden.

Demgegenüber liegt der zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten Stahlbetonanalyse 21 ein völlig neuartiger Ansatz zu Grunde: Rissbilder aus zahlreichen dokumentierten Versuchen werden nach dem einfachen und logischen Prinzip analysiert, dass an allen Rissen bzw. Rissabschnitten vor deren Entstehung rechtwinklig zu ihrem Verlauf zwingend (Haupt-)Zugspannungen gewirkt haben müssen. Wie die unten gezeigten Beispiele zeigen, kann dadurch der Verlauf der Zugspannungen in den Stegen eindeutig rekonstruiert werden. (Im Rahmen der hier vorgestellten Analyse wird der verbindende Bereich zwischen Biegedruck- und -zuggurt als Steg bezeichnet.) Mit einfachen Gleichgewichtsbetrachtungen ist es dann meist auch leicht möglich, die zugehörigen Druckstreben zu ermitteln (vgl. blaue Linien im Rissbild unten rechts).

Die daraus resultierenden Erkenntnisse wurden vom Verfasser in zwei Forschungsberichten veröffentlicht  -  in einem ersten Bericht  (Teil 1)  für Tragsysteme ohne Stegbewehrung und in einem zweiten Bericht  (Teil 2)  für Tragsysteme mit Stegbewehrung.


Stegzugstreben   Stegzug- und Druckstreben